Bieler Tagblatt, Anicia Rérat, 27.01.2010
Johns kleine Farm war meine letzte Chance
Anicia Rérat ist blind. Trotzdem geht ihr Wunsch, Tierpflegerin zu werden, in Erfüllung. Auf Johns kleiner Farmin Kallnach hat sie endlich eine Lehrstelle gefunden. Ein nicht alltägliches Lehrverhältnis.
Rolf Marti
Ein Kollege aus der Berufsfachschule formuliert es so: «Wir alle verwirklichen unseren Wunsch und lernen Tierpfleger. Es gibt keinen Grund, Anicia diesen Wunsch zu verwehren, nur weil sie blind ist». Das leuchtet ein. Nur zeigt sich die Realität oft genug blind gegenüber unseren Wünschen. Das weiss auch Anicia Rérat. Für sie ist es deshalb keine Selbstverständlichkeit, dass sie heute auf Johns kleiner Farm am Stubentisch sitzt und ihre Geschichte erzählt. Aber alles schön der Reihe nach.
Eingeschränkte Möglichkeit
Anicia Rérat ist heute 18-jährig und seit ihrer Geburt stark sehbehindert. Ihre Schulzeit absolviert sie deshalb an der Blindenschule Zollikofen. Mit 14 Jahren steht die Berufwahl an. Anicia weiss: Das fehlende Augenlicht schränkt ihre Wahlmöglichkeiten ein. Ihr Berufsberater empfiehlt ihr eine kaufmännische Grundausbildung, weil sich diese besonders gut für blinde Menschen eigne. Anicia schnuppert Büroluft – und befindet sie ungeniessbar: «Ich kann nicht den ganzen Tag in Räumen sitzen». Ihr schwebt eine Arbeit mit Kindern oder Tieren vor. Eine Lehre als Kleinkinderzieherin (Fachfrau Betreuung) muss sie sich aber bald einmal aus dem Kopf schlagen: «Es ist schwierig, Kinder zu überwachen, wenn man nicht sieht, was sie gerade anstellen». Also Tierpflegerin, auch wenn alle abraten und kaum jemand daran glaubt, dass sie eine der wenigen Lehrstellen ergattern kann.
Absagen und Sprüche
Anicia sieht vor ihrem inneren Auge ein klares Ziel und tastet sich auf dem Weg dorthin mutig voran. Sie macht Schnupperlehren, schreibt Bewerbungen – und erntet Absagen und deplatzierte Sprüche. «Sie können es ja versuchen, aber es wird bestimmt schwierig», «Ich möchte Sie nicht im Spital besuchen müssen» und dergleichen. Schliesslich erinnert sie sich an Johns kleine Farm. Der aparte Kleinzoo im Seeländer Dorf Kallnach setzt andere Prioritäten. John Bauder hat ihn 1996 auf dem Grundstück eines alten Bauerngutes gegründet mit dem Ziel, sehbehinderten Menschen einen direkten Zugang zu Tieren zu ermöglichen. Heute leben auf Johns kleiner Farm gegen 200 Tiere: Kamele, Luchse, Dachse, Füchse, Hühner, aber auch Amphibien und Reptilien. Gepflegt werden die Tiere von 14 Mitarbeitenden. Drei haben ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis als Tierpfleger/-in, sieben absolvieren als Jugendliche oder Erwachsene die entsprechende Grundbildung. Auffällig: Die Biografien der Lernenden sind selten stromlinienförmig. Für John Bauder nichts Aussergewöhnliches. Alles andere wäre ihm nicht Herausforderung genug.
Kein leichtes Unterfangen
Nun sitzt Anicia Rérat am Stubentisch des alten Bauernhauses, das zu Johns kleiner Farmgehört, und erzählt von ihren Erfahrungen als Lernende. Zum Beispiel von der Berufsfachschule in Olten, wo sie den Unterricht mit ihren sehenden Kolleginnen und Kollegen besucht. Kein leichtes Unterfangen, denn viele Unterrichtsmaterialien setzen auf Grafiken und Bilder. Anicia ist froh, dass ihr die Blindenschule Zollikofen einen Coach zur Seite stellt. «Frau Glauser sorgt dafür, dass ich die Lehrmittel und Prüfungen in einem für mich lesbaren Format bekomme.» Anicias wichtigstes Hilfsgerät ist ihr Laptop: Ein Sprechprogramm liest ihr die Texte vor, und dank der so genannten Braillezeile kann sie diese bei Bedarf auch in Blindenschrift übersetzen lassen. «Es geht zackig voran in der Berufsfachschule», sagt Anicia, die aufgrund ihrer Sehbehinderung für alles etwas länger braucht. Um das Tempo mithalten zu können, steht ihr pro Woche zusätzlich ein halber Lerntag zur Verfügung. Zweiweitere Stunden setzt John Bauder für berufskundlichen Unterricht ein. Und wie reagieren die Mitschülerinnen und Mitschüler auf ihre blinde Kollegin? «Unterschiedlich. Einige unterstützen mich engagiert, andere wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen.»
Ein erster wichtiger Schritt
Gute Aufnahme fand Anicia in ihrem Lehrbetrieb. Auch hier wurden Vorkehrungen getroffen, um der jungen Frau die Arbeit zu erleichtern: eine sprechende Waage oder ein sprechendes Thermometer zumBeispiel. «Mit Fantasie findet man immer eine Lösung, um Anicia zu unterstützen», sagt John Bauder. Trotzdem gibt es Arbeiten, die Anicia nicht alleine ausführen kann. Raubtiergehege putzen zum Beispiel. «Das wäre zu gefährlich für sie», erklärt John Bauder. Nach dem ersten Halbjahr ihrer Lehre wirkt Anicia Rérat abgeklärt: Die junge Frau weiss, was sie kann. Sie weiss aber auch, dass mit der Lehre ihre berufliche Integration noch nicht gesichert ist. «Es gibt wenig Betriebe, die bereit sind, eine blinde Tierpflegerin einzustellen», hält sie nüchtern fest. Um ihre Chancen zu verbessern, möchte sie sich auf Amphibien und Reptilien spezialisieren, weil diese in einem Terrarium und damit in einem für Anicia übersichtlichen Raum leben. Trotzdem ist sie froh, einen ersten entscheidenden Schritt auf ihrem Berufsweg gemacht zu haben: «Johns kleine Farm war meine letzte Chance, eine Lehrstelle in meinem Wunschberuf zu bekommen». Manchmal – so scheint es – hat die Realität doch ein Einsehen für unsere Wünsche und Träume.
Johns kleine Farm
1996 schuf John-David Bauder in Kallnach seinen eigenen kleinen Zoo, um insbesondere sehbehinderten Menschen einen direkten Zugang zu Tieren zu ermöglichen. Heute ist der Zoo auch für Familien ein kleines Paradies, in dem Kinder und Erwachsene mit Tieren und der Natur in Berührung kommen (Streichelanlage). Auf Johns kleiner Farm leben 55 verschiedene Tierarten. Seit 2007 leitet der Verein Johns kleine Farm die Geschicke des Zoos. Geschäftsführer ist John-David Bauder. Neben dem Engagement für die Tiere setzt sich der Verein auch zum Ziel, jungen Menschen mit erschwerten Startbedingungen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.