Das Essen ist fertig. Nehmen Sie Platz!
Zu Besuch im Unterricht Lebenspraktische FähigkeitenDoch halt! Nicht einfach so. Hier handelt es sich ja um eine Reportage der Blindenschule Zollikofen. Verschliessen Sie Ihre Augen. Am besten mit einem dunklen Tuch, damit das Blinzeln nicht zur Verführung wird. Sind Sie blind oder stark sehbeeinträchtigt, sind Sie im Vorteil. Hoffentlich sind Sie nicht zu hungrig. Denn einfach wird es nicht.
Essen beginnt im Grunde schon dann, wenn man sich an den Tisch setzt. Ist der Tisch direkt vor Ihnen – oder steht der Stuhl schräg dazu? Nutzen Sie Ihre Hände und Finger, die Tischkante, Teller und Besteck zu erkunden. Vorsichtig!
Konnten Sie sich einen Überblick verschaffen, ohne das Glas umzustossen?

In der Literatur und Ratgebern liest man zu Alltagstricks in Haushalt und Küche für Menschen mit Sehbeeinträchtigung: Um sich zu orientieren, wo sich Teller, Messer, Gabel, Löffel und Glas befinden, stelle man sich das Zifferblatt einer Uhr vor. Das Gleiche gilt für die Speisen auf dem Teller selbst. Fleisch liegt auf der Position von 6 Uhr. So können Sie es am besten schneiden. Die Beilagen sind auf 3 Uhr, das Gemüse um 9 Uhr. Das Getränk steht neben dem Teller auf 2 Uhr, das Dessert bei 11 Uhr.
Für den Umgang mit Messer, Gabel und Löffel gibt es verschiedene Schiebe- und Schneidtechniken. Isst man Reis mit dem Löffel, ist es sinnvoll, nicht die Reiskörner auf den Löffel zu schieben, sondern den Löffel auf das Messer oder die Gabel zu. Ein Stück Fleisch, Fisch oder Tofuburger wird zunächst mit dem Messer umrundet, um seine Dimensionen zu erkunden. Die Gabel fixiert am Rand, mit dem Messer schneiden Sie halbkreisförmig dicht um die Zinken ein Stück ab. Knurrt Ihr Magen schon unablässig und beschwert sich, warum das so lange dauert?
Auch Routine muss angeeignet werden
Was Sie gelesen haben, sind spezielle Techniken für Menschen, die wenig sehen oder blind sind. Ob es um
- Essen und Kochen
- Körperpflege
- Einen Haushalt führen
- Kommunizieren
- Ordnung halten
- Sich Ankleiden und Wäschewaschen ...
... geht, es sind Tätigkeiten und Fertigkeiten, die unseren Alltag prägen. Sie sind es, die es einem Menschen ermöglichen, sein Leben selbstbestimmt und unabhängig zu gestalten.
Blinde Menschen tun das auch. Sie tun es anders.
Vieles erledigen wir unbewusst, ohne gross darüber nachzudenken. Es ist zur Routine geworden. Von Kindesbeinen an haben wir es gelernt. Kinder sind von ihrer ersten Lebensminute an neugierig und beginnen bereits früh, alltägliche Situationen nachzuahmen. Sie imitieren ihre Eltern. Sie plündern ihre Kleiderschränke, um die Erwachsenenwelt nachzuspielen. Und dabei lernen und lernen und lernen sie. Kinder, die blind sind oder eingeschränkt sehen, tun das anders. Sie lernen vor allem durch Tasten, Berühren, Hören, Riechen, Schmecken und sich Bewegen. Was Sehende im Alltag oft so ganz nebenbei, durch Imitation lernen, erfordert bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung viel Konzentration und Energie. Da werden einfachste Tätigkeiten zu harter Arbeit. Deshalb ist das Erlernen von Lebenspraktischen Fertigkeiten in unserer Schule ein spezielles Unterrichtsfach.
Einfachste Tätigkeiten sind harte Arbeit
Sami, die eigentlich Samantha heisst, im Moment jedoch lieber Sami hört, ist seit Geburt blind und im Autismus-Spektrum. Als sie in die Blindenschule Zollikofen kam, konnte sie nicht frei gehen und bevorzugte flüssige Nahrung. Dass die heute 14-Jährige mit dem Langstock selbstständig unterwegs ist und mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern am Mittagstisch zusammen isst, sind grosse Entwicklungsschritte. «Sami ist an vielem interessiert und sie traut sich etwas zu», beobachtet Rebekka Scholl, Lehrerin für Lebenspraktische Fähigkeiten. Hat sie sich auf etwas eingelassen, so bleibt sie dran, höchst konzentriert. Hat Sami etwas gelernt, dann verlernt sie es nicht mehr. Ob nun kniffligste Aufgaben oder Namen, die sie einmal gehört hat. Sie bindet die Schnürsenkel aus dem Effeff – eine Aufgabe, die unter den Schülerinnen und Schülern der Blindenschule Zollikofen ganz und gar nicht beliebt ist.
Und Sami ist neugierig. So kommt es, dass bevor der Unterricht überhaupt anfangen kann, Sami den Besuch des Fotografen und der Reporterin nutzt, uns Löcher in den Bauch zu fragen. Sie will alles wissen, was mit unserer Lebens- und Wohnsituation zusammenhängt. Will die Postleitzahlen wissen, ob die Bäder Fenster oder lediglich Ventilatoren haben. Das ist ihre Art und Weise, Kontakt aufzunehmen. Sami mag Geschichten. Sie eröffnen ihr neue Perspektiven durch die Augen anderer. Erschliessen ihr die Welt. Mit Begeisterung taucht sie deshalb in die Welt der Hörbücher ein. Es erstaunt drum nicht, als sie auf die Frage, was sie in der Schule gern macht, sagt: «Ich schreibe gern». Schreiben übt sie auf dem Computer. Das Erlernen der Brailleschrift und die Anwendung am Computer gehören wie der Unterricht in Lebenspraktischen Fähigkeiten zu den blindenspezifischen Unterrichtsfächern. Was Sami hingegen gar nicht mag, zumindest heute, ist, das Messer beim Essen zur Hilfe zu nehmen. «Das stört», sagt sie nur. Kurzangebunden. Und mag es gar nicht begründen. Sie hat ihren Weg gefunden zu essen. Sie freut sich, wenn sie wieder einen der weichen, bunten Playmais mit der Gabel aufgestochen hat, die hier im Unterricht Pasta simulieren. Mit einem offenen, herzlichen Lachen, das ihr ganzes Gesicht einnimmt.


Im Unterricht «Lebenspraktische Fähigkeiten» zeigen unsere Fachpersonen wie Rebekka Scholl den Schülerinnen und Schülern Techniken und Hilfsmittel, wie sie ihren Alltag möglichst selbstständig und unabhängig bewältigen. Sie trainieren regelmässig, wie sie mit Messer, Gabel und Löffel essen. Wie sie Flüssigkeiten einschenken und abmessen. Wie sie Kleidungsstücke zusammenlegen und erkennen, wo die Vorder-, wo die Rückseite ist. Wie sie Socken sortieren. Wie sie die Zahnpasta dosieren. Wie sie mit dem Handy und dem Computer kommunizieren.
Die Fachpersonen sind dabei, wenn in den Wohngruppen gekocht und gegessen wird. Gehen zum Mittagstisch. Unterstützen im Hauswirtschaftsunterricht. Trainieren An- und Ausziehen in der Garderobe der Turnhalle. Oder geben Einzelstunden, wenn eine Schülerin Ruhe und Konzentration benötigt.
Selbst bestimmen, wann man handeln möchte
Selbstständigkeit zu erreichen, ist eines der wichtigsten Ziele für die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Blindenschule Zollikofen. Die Unterstützung zur Selbstständigkeit ist mindestens so wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Deshalb sind diese Fächer fester Bestandteil des Unterrichtsplans:
- Orientierung und Mobilität
- Low Vision
- Brailleschrift
- Information and Communications Technology für blinde und sehbeeinträchtigte Kinder
- Unterstützte Kommunikation
- Lebenspraktische Fähigkeiten
Lebenspraktische Fähigkeiten sind Alltagshandlungen, die es einem Menschen ermöglichen, sein Leben selbstbestimmt und unabhängig zu gestalten: Den Wasserhahn aufdrehen, gezielt das Glas finden, das auf dem Tisch steht, sich selbstständig etwas eingiessen und damit selbst bestimmen können, wann man wie viel trinken möchte. Selbstbestimmung ist ein wesentlicher Bestandteil von Selbstständigkeit.